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Von Tischtennis-Ruhestand kann keine Rede sein

Bundesliga-Legende Qianhong Gotsch zieht es mit 55 Jahren nach Bayern

Foto (Quelle: Ingo Gotsch) >> links Günther Lodes (jahrzehntelanger Abteilungsleiter im Tischtennis in Kolbermoor, heute Stellvertreter von Abteilungsleiter Michael Fuchs), Hongi Gotsch (Mitte), sowie rechts Sabine Balletshofer-Wimmer, Vorstandssprecherin Gesamtverein SV-DJK Kolbermoor.

Die Gerüchteküche war zuletzt schwer am Brodeln, wenn in Tischtenniskreisen die Thematik auf Qianhong Gotsch zur Sprache kam. Wie sieht die sportliche Zukunft der 55-jährigen aus, nachdem die SV Böblingen ihren Rückzug aus der Bundesliga bekanntgab und die Tischtennis-Ikone zudem frühzeitig kommunizierte, dass sie noch einmal eine sportliche Herausforderung suchen werde? Welcher Bundesligist zählt zukünftig auf die Dienste der ehemaligen Weltranglistenvierten und Europameisterin von 2000? Oder tritt Gotsch, nachdem zuletzt der offene Spielbetrieb für Frauen und Männer von Seiten des Tischtennisbunds beschlossen wurde, womöglich zukünftig in einer höheren Liga bei den Männern an? Nun ist die Katze aus dem Sack: In der kommenden Saison spielt die Gärtringerin für den oberbayerischen Bundesligisten SV DJK Kolbermoor.

Hinter der neuen Gallionsfigur und Führungsspielerin Annett Kaufmann, die ihren Wechsel nach Kolbermoor bereits bekanntgegeben hat, reiht sich die „Grande Dame“ des Tischtennissports, wie sie von ihrem neuen Verein in der Pressemitteilung genannt wird, nun ins zweite Glied ein. Offen sei laut Ehemann Ingo Gotsch noch, ob sie weiter am Spitzenpaarkreuz spielen wird. „Das hängt von den weiteren Personalplanungen des Vereins und den Rankingwerten der Teamkolleginnen ab“, sagt er. „Ich freue mich riesig darauf, ein Teil des SV-DJK-Teams zu sein. Es ist eine neue Herausforderung in einem neuen Umfeld, ähnlich familiär wie in Böblingen, das zu mir passt“, sagt Qianhong Gotsch. „Hongi ist ein unglaublicher Gewinn für unser Team. Sie wird nicht nur mit ihrem spektakulären Spielsystem in der Box tolle Spiele bestreiten, sondern auch abseits der Tische als Vorbild für unsere jungen Spielerinnen eine wichtige Rolle einnehmen“, erklärte der stellvertretende Abteilungsleiter Günther Lodes.

Wenn zahlreiche Vereine um eine 55-jährige Sportlerin buhlen, dann ist das schon etwas Außergewöhnliches. In einem Alter, in dem andere sich so langsam mit dem Ruhestand anfreunden, will Qianhong Gotsch noch einmal durchstarten. Und sich beweisen, dass sie noch in der Lage ist, den Tischtennissport auf höchstem Level zu betreiben. „Die halbe Liga hat Interesse gezeigt“, sagt Ingo Gotsch. „Natürlich denke ich von Jahr zu Jahr, wie zuletzt auch“, sagt „Hongi“ Gotsch und auf die Frage, ob sie noch auf Weltklasseniveau spielen kann: „Wenn ich viel trainiere, kann ich schon noch mit den Besten in der Liga mithalten. Der Wille ist da, auch der Körper macht noch mit, so dass es im Normalfall für zwei Einzel in einem Bundesligaspiel reicht. Die Regenerationsphasen werden halt immer länger.“ Ein Vorteil, so sagt sie, sei zweifelsohne ihr Abwehrspiel, das ihr Zeit gebe, zu reagieren. Und bei dem sie viel von ihrer riesigen Erfahrung, von Intuition und nicht zuletzt von ihrem grandiosen Ballgefühl profitiert. „Bundesligalegenden wie Ding Yaping oder Jing Tian-Zörner waren alles Abwehrspielerinnen“, sagt sie.

In diesen Tagen begibt sich Qianhong Gotsch auf eine 12-tägige Reise in die Vergangenheit, besucht ihre Eltern in der Millionenstadt Tianjin. „Meine Mutter sagte mir, dass im chinesischen Internet über meinen anstehenden Vereinswechsel berichtet wurde“, sagt sie etwas verwundert. In Tianjin kam Gotsch zur Welt, mit acht Jahren begann sie mit dem Tischtennis. „Ich war als junges Mädchen sehr zierlich und auch oft krank“, erinnert sie sich, „in der Schule lachte man mich oft aus. Meine Mutter schickte mich zum Tischtennis.“ Daraus entstand, vielleicht anfangs wider Willen, eine große Leidenschaft, und nicht zuletzt war es die Sportart, die ihren weiteren Lebensweg entscheidend prägen sollte. In den 1980er Jahren wurde Qianhong He, wie sie damals hieß, chinesische Jugendmeisterin im Einzel. 1986 gewann sie den chinesischen Einzeltitel bei den Frauen, ein Jahr später wurde sie Studenten-Weltmeisterin. Über Offenburg landete die Ausnahmespielerin 1991 in Böblingen, nachdem sie sich in ihrem Heimatland mit den dortigen Nationaltrainern überwarf. „Es gefiel mir nicht, dass die Trainer manchmal vorschrieben, wer ein Spiel zu gewinnen hat. Ich entschied mich für etwas Neues.“  

Die weitere Geschichte ist bekannt. Das Böblinger Juwel schrieb Tischtennisgeschichte, gewann über 600 Einzel in 33 Jahren Bundesliga. Wenn die SVB Spiele verlor, lautete das Ergebnis oft „6 zu Hongi“. Mit dem TSV Betzingen, für den sie von 1998 bis 2003 spielte, gewann sie den Europapokal, sie wurde Einzel-Europameisterin, Fünfte bei den Olympischen Spielen in Sydney. In Böblingen lernte sie ihren späteren Ehemann Ingo Gotsch kennen. „Das tolle Vereinsklima und mein persönliches familiäres Umfeld waren wichtig für meine Erfolge“, sagt sie heute. Und will dabei explizit auch ihre Schwiegereltern Annemarie und Manfred Gotsch mit einbeziehen, die ihr als junge Mutter oftmals den Rücken freihielten.

Im Laufe der Jahrzehnte gaben sich in Böblingen viele Tischtennis-Asse die Klinke in die Hand, solche wie Deutschlands „Miss Tischtennis“ Nicole Struse, die im Herbst ihrer Karriere bei der SVB noch einmal zum Höhenflug ansetzte, oder die Biberacherin Nicole Delle, eines der größten deutschen Talente in den 1990er Jahren. Und dann waren da noch weitere Asiatinnen wie Weiyu Bosler, die sich mittlerweile unter anderem dem Golfsport zugewandt hat, oder Jugendfreundin Xu Yanhua, die in Böblingen ein Tischtennisgeschäft betreibt und Trainerstunden gibt.

Befasst sich Qianhong Gotsch gedanklich mit ihrer Karriere, will sie aus den Hunderten von Spielen kein besonderes herauspicken. Oft hat sie mit ihrem unbändigen Kampfgeist schon verloren geglaubte Partien noch herumgerissen, das Hier und Jetzt ist der 55-jährigen sowieso wichtiger als der Schnee von gestern. „Meine Kinder schauen meine Pokale öfter an als ich. Ich habe einfach immer nur versucht, zu gewinnen“, sagt sie, eben „typisch Hongi“. Das hat sie auch weiterhin vor. Rekorde hat sie schon genug gebrochen, der Altersrekord der Deutsch-Ungarin Agnes Simon, die mit 57 Jahren noch im Oberhaus spielte, wackelt bedenklich.

Unter der Woche wird Qianhong Gotsch weiterhin in Böblingen trainieren, oft mit Annett Kaufmann, mit ihrer japanischen Freundin Mitsuki Yoshida, mit Florian Bluhm von Drittliga-Vizemeister Neckarsulm oder mit Torben Wosik, den sie zukünftig häufiger in seiner Tischtennisschule unterstützen wird. „Zu ihren besten Zeiten hätte Hongi auch in der Männer-Bundesliga spielen können“, ist sich Ingo Gotsch sicher. Und seine Gattin lächelt. „Ich werde nicht jünger“, meint sie, „vermutlich darf ich bald mit Brille spielen.“ Als Defensivkünstlerin sei es nicht ganz so einfach, diesbezüglich den Durchblick zu behalten. „Ich werde den Sommer nutzen, mich an die Situation zu gewöhnen“, sagt sie. Erst einmal hat allerdings die Lokalpolitik Priorität. „In den nächsten Wochen muss ich noch etwas Wahlkampf machen“, sagt Gotsch. Seit mittlerweile zehn Jahren sitzt sie im Gärtringer Gemeinderat, strebt nun ihre dritte Amtszeit an. Und wohin der weitere Weg mit dem Tischtennisschläger führt, wird sich zeigen. „Mal mit Ingo in einer Mannschaft zu spielen, hätte was“, sagt sie. Aber dazu ist sie noch zu gut.

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